Fußball ohne Politik?

Fußball ohne Politik?

„Fußball und Politik sind zwei Dinge, die nicht zusammengehören. Wir gehen ins Stadion, um uns abzulenken von unserem Alltag, um eine Auszeit zu nehmen von all den Kontroversen und Debatten, die unser Leben die übrigen Tage der Woche einnehmen und bestimmen. Zumindest für 90 Minuten wollen wir frei sein von all dem, was belastet, verärgert und frustriert. Es bleibt uns ein Nachmittag, losgelöst von aller Realität, der keine Probleme außer den sportlichen bringt. Thematiken, die uns schier erdrücken, können wir hier übersehen, verdrängen, vergessen. Wir konzentrieren uns auf den Sport, alles andere ist heute, am Spieltag, nebensächlich, alles andere kann bis morgen warten…“

So oder so ähnlich könnte die Formel heißen, die unseren Sport in ein schier politikfreies Vakuum enthebt, in einem Kokon isoliert und gegen alles Äußere, all das vermeintlich Schlechte, immunisiert.
Die Anleitung steht und ist so einfach, dass sie jedem plausibel erscheint. Wir klammern uns gern an dieser furchtbar simplen Logik fest. Es ist wohl unsere Bequemlichkeit, die nicht einsehen will, wie instabil das kleine Kartenhaus aber tatsächlich ist.
Doch das Kartenhaus wankt. Denn die dunkle Realität drückt von außen auf das Fundament unserer Scheinwelt:
Immer wieder dringt sie ein, diese furchtbare Realität, immer wieder findet sie Wege in unser sorgenfreies Fußballwunderland und immer wieder entbrennen feurige Debatten über Thematiken, die doch eigentlich nicht Teil dieser anderen, ausgelasseneren Welt sein sollten.

Die Frage liegt also auf der Hand: Kann unser Kartenhaus denn wirklich existieren? Können wir uns denn tatsächlich 90 Minuten am Wochenende allen gesellschaftlichen Phänomenen verschließen und so tun, als gäbe es keine schlimmeren Sorgen als eine derbe Niederlage gegen den Lokalrivalen?
Da wir die Debatten letztlich doch immer wieder führen (müssen), wenn auch nur, um einem kurzzeitig aufkommenden öffentlichen Druck nachzukommen, kann diese Frage wohl nur rhetorisch sein, sprich eine Antwort zulassen, denn: Es kann einfach keine Welt außerhalb der eigentlichen geben….
Trotzdem haben wir offenbar Probleme, uns genau das einzugestehen und halten geradezu panisch an dieser schleierhaften Illusion fest:
Warum zum Beispiel ist der Rassismus im Stadion für viele ungleich dem Rassismus auf der Straße? Warum meinen angeblich Schimpfworte, Verunglimpfungen, Beleidigungen auf dem Rasen nicht mehr dasselbe wie im Bus, auf der Arbeit oder in der Schule?
Marginalisiert zu bedeutungsleeren Emotionsausbrüchen, unter Alkohol verzerrten Perspektiven oder einem desinteressierten Schulterzucken: „Das gehört eben dazu…“ werden viele Dinge zwar schnell abgetan, Rassismen bleiben es aber dennoch!
Der ein oder andere mag sich auch jetzt darüber echauffieren, dass dieser Blickwinkel kleinkariert sei, dass nicht jede Äußerung auf der sprichwörtlichen Goldwaage landen müsse, doch tatsächlich geht es hier um nichts Geringeres als den eigentlichen Kern der ganzen Thematik:
Es ist zunächst einmal ein Problem der Semantik, der Bedeutung unserer Begrifflichkeiten, denn allzu viele Menschen setzen Rassismus lediglich mit den Extremen gleich: Brennende Asylantenheime, Naziaufmärsche, Massenvernichtung, Hass und Gewalt. Natürlich sind auch sie elementare Auswüchse von Fremdenfeindlichkeit, aber Rassismus beinhaltet weit mehr. Wir glauben, nur weil wir nicht jedem Migranten in unserer Umwelt den unmittelbaren Tod wünschen, eventuell auch den ein oder anderen Nachbarn aus der Türkei oder Ghana besser kennen und schätzen, dass wir gefeit sind von rassistischen Vorannahmen. Aber sind wir das denn wirklich? Glauben wir nicht manchmal doch an stereotype Zuschreibungen? Fordern wir nicht auch immer wieder die Ausweisung krimineller Ausländer, die Anpassung an unsere sogenannte Leitkultur, die finanzielle Bevorzugung „echter“ Deutscher?
Dabei bemerken wir selten die Absurdität unserer Äußerungen, die Verfangenheit in Ideen von Differenz, von Unterschieden zwischen den Menschen, den Rassen, den Geschlechtern und damit einhergehend als legitim verstandenen Privilegien und Ansprüchen. Die Hintergründe dieser Annahmen sind uns selten bewusst, wer genießt denn schon die Möglichkeit, in einem Hochschulstudium hinter die Kulissen zu schauen, zu erfahren, wie Gesellschaft und die ihr immanenten Wahrheiten funktionieren? – Wohl die wenigsten, nur: wer gibt uns sonst den Anstoß, einmal die Perspektive zu ändern, den Blickwinkel zu schärfen, neue, andere Fragen zu stellen?

Ebenso absurd ist natürlich die Annahme, wir könnten ein Fußballstadion für 90 Minuten betreten und diese Ideen an den Stadiontoren zurücklassen. Vor allem, wenn diese Ideen unsere Weltwahrnehmung ausmachen. Und sehen wir uns unseren Sport genauer an, er ist nichts Eigenes, nichts Fremdes, keine andere Sphäre, er basiert auf all den Regeln, Werten und Ideen, die gesellschaftliches Sein grundsätzlich leiten und bestimmen.

Wir müssen nur den Mut haben, es uns auch einzugestehen, mitsamt den daraus folgenden Konsequenzen! Solange wir versuchen, die Scheinwelt Fußball zu schützen, werden wir es kaum schaffen, die Probleme an ihren Wurzeln zu packen und zu bekämpfen. Wir wehren das Eindringen der Realität lediglich mit kurzen Schlägen, mit einem Minimum an Kraftaufwand ab, um die Show, das Ereignis Fußball in seinem eigenen kleinen Mikrokosmos zu bewahren.

Alle Versuche bleiben halbherzig und ineffektiv, bloße Abwehrreaktionen, bestimmt von einem rein reaktionären Moment.
Wir können die Augen verschließen, um die makellose Marke Fußball nicht zu gefährden, aber diese Rechnung kalkuliert mit äußerst verblendeten Kunden. Es ist nicht die Politik, die im Stadion nichts zu suchen hat, sondern es sind Rassismen, Diskriminierungen, sexistische Äußerungen! Es gilt gerade, das Publikum im Stadion für diese Themen zu sensibilisieren, vorzuleben, dass Affenlaute, „Zigeuner“- oder „Schwuler“-Rufe eben nicht tragbar sind, sondern gezielte Wertungen in sich tragen. Unsere Arbeit kann aber nur dann sinnvoll sein, wenn wir uns damit als Ganzes auseinandersetzen. Kurze, momentbezogene Reaktionen, ein Spruchband oder eine rote Karte gegen Rechts sind wenig sinnvoll, solange die Probleme nicht in ihrem Wesen thematisiert und bekämpft werden. Es gilt vielmehr, Dinge sichtbar zu machen, ihre Konstruktionsmechanismen zu entlarven, immer wieder darauf hinzuweisen: Es gibt Rassismus, überall, und so funktioniert er! Und was können Sie tun? – Uns einen Augenblick Ihrer Zeit schenken, uns zuhören und zumindest hin und wieder beginnen, Ihre Perspektive zu schärfen! Fangen wir also endlich an, die richtigen Fragen zu stellen!