Mein Coming-Out oder: Von einem, der auszog, dann doch ein Ultra zu sein

Mein Coming-Out oder: Von einem, der auszog, dann doch ein Ultra zu sein

Vor mittlerweile vier Jahren schrieb ich in diesem unserem Heft einen Artikel unter dem Titel „Von einem, der auszog, kein Ultra zu sein“. In diesem erläuterte ich, warum ich nicht in einer Schublade mit all denjenigen gefangen sein wollte, die sich selbst und ihr, aus meiner Sicht auch heute noch falsches, Handeln (Leute abziehen, Gewalt gegen alles und jeden etc.) als Ultra definieren. Hinter diesen Kritikpunkten stehe ich wie gesagt auch aktuell noch.

Allerdings hat sich in den letzten Monaten etwas getan (diese Entwicklung ist, wie ich beim Schreiben dieser Zeilen feststelle, interessanterweise ebenfalls nachvollziehbar: Kommentar zu „Ultra ist, was du draus machst!“ und „NK08 – Warum ich den Scheiß noch mach“). Ich spüre ein Stück weit den Wunsch, der Art und Weise wie ich Fußball und den SCV lebe, einen Namen zu geben (eine größere Abhandlung zum Thema Identität bzw. Identifikation erspare ich uns allen an dieser Stelle, auch aufgrund mangelnder Expertise ;-)).

Und tatsächlich erdreiste ich mich einfach, das Ganze Ultra zu nennen, auch wenn’s dem ein oder anderen Vertreter dieser Subkultur nicht gefallen dürfte. Ich habe einfach das Gefühl, mir diese Selbstbezeichnung verdient zu haben. Nach vier Jahren Nordkaos kann ich sagen: Ich lebe Ultra, und das ist auch gut so! Wir machen mehr als andere, nehmen die Wendung „Fußball leben“ ernst und so wörtlich wie es geht, sodass unser Sport dadurch einen sehr großen Raum in unseren Leben einnimmt. Das ist für mich der Inbegriff von Ultra, so wie ich diese Subkultur verstehe.

Was für mich hingegen nicht Ultra ist, ist das Hierarchische, in manchen Fällen faschistoide, was sich in manchen Szenen breit macht. Auch der ganze Themenkomplex Gewalt gehört nicht dazu. Nur weil ich Fußball auf eine andere, in vielen Bereichen intensivere Art lebe als Menschen, die sich selbst nicht Ultra nennen, heißt das noch lange nicht, dass ich die Gruppe samt Reliquien (aka Material), den Verein, das Viertel, die Stadt oder was auch immer, derart überhöhen muss, dass ich damit vor mir selbst und der Welt die Anwendung von Gewalt legitimiere. Klar, wenn meine Freunde und ich angegriffen werden, verteidige ich mich. Aber das ist bei jeder anderen Form von Clique auch so und hat herzlich wenig mit Fußball zu tun. Aber diese ganzen dumm-dämlichen Kindergartenspielchen rund um Revierverhalten und Männlichkeitsgebahren muss ich nun wirklich nicht mitmachen.

Früher war das für mich der Punkt, weshalb ich mich nicht als Ultra bezeichnen (lassen) wollte. Wie gesagt, ich wollte nicht in diese Schublade. Auch wollte ich mich nicht selbst in meiner Freiheit beschneiden dadurch, dass ich mich „haftbar“ mache, weil ich ja dem herrschenden Konzept von Ultra entsprechen muss, wenn ich mich als solchen bezeichne.

Inzwischen meine ich aber: Ultra heißt (bekanntlich?) auch Ausbrechen aus der Norm, anders sein. Tja, wir brechen halt aus der Ultra-Norm aus und lehnen u.a. die ganze Gewaltschiene ab, so einfach ist das! Dieses emanzipatorische Denken ist für mich der Kern dieser Bewegung, dieser Art zu leben, weshalb es aus meiner (heutigen) Sicht mehr als legitim ist, das Ganze auch weiterhin Ultra zu nennen (#evolutionftw). Bisher haben halt nur die wenigsten daran gedacht, es auf die Bewegung selbst anzuwenden. Diesen Schritt zu machen (der übrigens durchaus analog zu dem Schritt weg vom Profi-Fußball zu sehen ist), ist meiner Meinung nach mehr Ultra als all das, was sich Woche für Woche in den Blöcken des Profifußballs abspielt.

Und wenn wir schon dabei sind: Am Mainstream-Ultra (nicht zu verwechseln mit dem total avangardistischen, ja in diesem Sinne fast schon St. Pauliesquen Nordkaos-Ultra*) hat mich auch immer schon gestört, dass jeder Hinz und Kunz meint, einfach den Dress-Code, der gerade en vogue ist (zeitlose Klassiker, beliebig miteinander kombinierbar: Windbreaker, Jogger, Bauchtasche und Sonnenbrille) übernehmen zu müssen, um Teil der Bewegung sein zu können (übrigens ein Problem, das so ziemlich jede Subkultur kennt).

(*Nicht im Sinne von „Ultra wie bei St. Pauli“, sondern so anders, avantgardistisch, alternativ, non established etc., wie der FCSP sich manchmal nach Außen hin gerne sieht.)

Ultra ist aber für mich auch ein ganzes Stück weit ein Prozess, eine Entwicklung, so wie ich sie durchgemacht und hier beschrieben habe. Irgendwo ist es ein Prädikat, eben etwas, das man sich verdienen muss (s. oben). Dadurch, dass es in manchen Szenen aber so einfach ist, Mitglied einer Gruppe zu werden, geht dieser Prozess des sich verdient machen an vielen Jüngeren vorbei. Dann muss man sich aber auch nicht wundern, wenn diese dann die hoch gehaltenen Werte wie Freundschaft, Treue und Loyalität nicht leben, sondern nur das von Außen Sichtbare (und Einfache). Dress-Code, Riot, Pyro und zwischendurch eventuell ein bisschen (störender?) Support und hin wieder mal eine Choreo, das ist doch für viele dieser Leute Ultra. Die fundamentale Basis mit all ihren Werten abseits der alltäglichen Lebenswelt (Ellbogengesellschaft etc.), bekommen sie oftmals nicht vermittelt, weil Ultra eher als eine Zustandsbeschreibung, die man sich selbst geben kann, denn als Prozess begriffen wird.

So ruhen sich viele auf ihrem Entschluss „Ich bin jetzt ein Ultra“ aus, ohne wirklich verstanden zu haben, was das bedeutet. Dass es nicht heißen kann: Am Wochenende Ultra und den Rest der Zeit vergesse ich alles, worauf es basiert. Neben dem Wichtigstem, dem überdurchschnittlichem Engagement für und rund um den Verein, in welcher Form auch immer, gehören für mich so Dinge wie ständiges sich selbst und seine Umwelt hinterfragen, aus der Norm ausbrechen, aber auch vermeintlich profane Dinge wie Ehrlichkeit, Treue etc. unbedingt dazu. Dass dieser Entschluss erst der Anfang einer nicht endenden Entwicklung ist und nicht ihr (unerreichbarer) Abschluss. Dass es ab jetzt heißt, sich das Prädikat Ultra zu verdienen (wobei die „Kontrollinstanz“ im Idealfall das Individuum selbst ist, Selbstreflexion allez) und eben nicht nur mit den schicken Klamotten oder dem geilen Kurvenmagazin (zu dem man am besten noch nicht mal selbst was beigetragen hat) Prollen gehen und ansonsten sein Leben so führen wie der letzte Disko-Depp es auch tun würde. Zugegeben, diesen ganzen letzten Absatz haben auch bei uns nicht alle verinnerlicht, aber wir arbeiten dran, nicht wahr?