Der Tag beginnt
…morgens um halb sieben. Viel zu früh, aber wem sag ich das?! Einziger Lichtblick: Heute ist Freitag, Spieltag, das macht es erträglich.
Im Bus sitze ich meinen Klassenkameraden gegenüber, sehe zu, wie sie sich ihre neusten Videos auf dem Handy vorspielen. Natürlich besitzen sie alle die teuersten und neusten Modelle, ist ja klar. Meines kann noch nicht einmal Fotos machen, also lass ich es besser gleich in der Tasche. Geld für so was hab ich eh nicht, immerhin musste ich gerade all meine Kohle in neue Fahnenstoffe investieren.
Eine Station weiter stopfen sich noch mehr Kiddies in den Bus, sie alle sind aufgestylt, tragen teure Klamotten, begrüßen sich mit Umarmung und Küsschen: „Ey Digga, Ey Alda, was geht ab?!“ Ich kann es kaum ertragen, denn ihre Selbstinszenierung über Konsum, Konsum und nochmals Konsum geht mir auf die Nerven. Zum Glück sichte ich durch die vielen G-Star,- Tommy Hilfiger- und Picaldi -Marken-Prolls eine Person in schwarzem Windbreaker, Jogger und Cap – mein bester Kumpel. Endlich Rettung. Er drängelt sich durch die dichten Reihen der Jamba-Abonnenten, während von allen Seiten laute Crazy Frogs, Muffels und Schnuffels vor sich hinplärren.
Schnell finden wir Ablenkung: „Hast du das von Hopp gelesen?“ „Ja, ich hab auch noch schnell ’nen Artikel für den Flyer drüber geschrieben, genau wie über die 50 plus eins…“ Wir plaudern über Fußball, bis der Bus endlich ankommt.
Beim Aussteigen zünden sich 90 Prozent der Umstehenden im Kollektivrausch erstmal ihre Zigaretten an. Interessiert uns überhaupt nicht, denn auf dem Mülleimer gegenüber erspähen wir einen kleinen Aufkleber, der hier definitiv nichts zu suchen hat! Also, ab auf die andere Straßenseite, den neusten NDP-Aufkleber abkratzen und wieder hinter den anderen her in den Klassenraum. Leider interessiert sich der Mainstream nicht mehr für Dinge außerhalb von Sonnenstudios, Discos, Klamotten, Alkohol und Spaß haben. Überhaupt gibt es scheinbar nur noch ein Lebensziel in dieser Welt: Spaß haben, Spaß konsumieren und nebenbei verdummen.
Daher ist es wohl auch bezeichnend, dass ausgerechnet wir Chaoten uns in der kommenden Sozialkundestunde eine anregende Diskussion mit unserem Lehrer zum Thema Globalisierung leisten. Der Rest schläft oder lacht uns nebenbei aus. Ehrliches Interesse an irgendwelchen Themen? Fehlanzeige.
In Chemie schalte ich dann auch ab, doch während mein Tischnachbar sich mit seinem Homie in der ersten Reihe stundenlang SMS sendet, arbeite ich an neuen Entwürfen für Aufkleber, übe Schriften und Tags. Nach dem Unterricht ist es bereits ein schöner kleiner Stapel, den ich meinem Kumpel vorführe und wir entscheiden gemeinsam, welche Versionen letztlich gut genug sind, um sie weiter zu verwenden.
Mit dem ersehnten Ende der Schulwoche stürmen wir auch umgehend aus dem Gebäude. Ungläubig beäugt von unseren Klassenkameraden, die noch immer den Kopf schütteln, wie wir ihre Einladung zu der krassen Party, der Über-Party, der Über-Mega-Party einfach so ablehnen konnten: „Ey Mann, das wird geil, ey feiern Mann. Gibt jede Menge Alkohol und Chicks, also Mann, du musst auch mal ein bisschen Spaß haben…“ Spaß haben…? Meine Nemesis, wenn ich Spaß haben will, dann geh ich ins Stadion, ihr Deppen!
Von der Schule aus geht es gleich zum Copy-Shop, die neuen Flyer in Auftrag geben. Während diese gedruckt werden, müssen wir auch schon weiter: Neues Klebeband holen, neue Fahnenstöcke und allerlei Kleinkram, der noch gebraucht wird.
Nach zwei Stunden können wir die Flyer in großen Kartons zum Stadion schleppen. Dort treffen wir auch direkt auf die nächsten Leute aus der Gruppe. Die Aufregung steigt, wir quatschen und die anderen präsentieren ihre neuen Sektionsfahnen, an denen sie die gesamte Woche gebastelt haben. Das neue Material sieht so geil aus, ich kann es kaum erwarten, endlich alles aufzuhängen.
Doch zunächst gilt es, den Info-Stand aufzubauen. Es gibt neue Buttons und Fanzines. Während die einen die Verkaufskisten heranschleppen, lesen einige schon die ersten Flyer, andere mühen sich ab, die Trommel schon mal festzuschnüren. Langsam treffen immer mehr ein und die Aufregung steigt proportional zu den anwesenden Kaoten.
Die Mannschaft ist im Begriff aufzulaufen, wir stehen hinter unserem neuen Banner alle zusammen, der ein oder andere mit Seenotfackeln, Luftballons und Wunderkerzen bewaffnet. Es geht los, wir brüllen, schreien, singen, hüpfen. Dabei flackert unser Feuerwerk. Es ist Ekstase pur, es gibt nichts Geileres.
Schon zur Halbzeit hab ich kaum noch Stimme, der Schweiß tropft mir nur so von der Stirn, ich bin total k.o., trotzdem heißt es nochmal: 45 Minuten alles geben.
Das Spiel neigt sich dem Ende, der Ball wird ein letztes Mal nach vorne gespielt, Flanke, Kopfball – Tor! Wir flippen aus, klettern auf die Zäune, schwenken unsere Fahnen und ich kann mir nicht vorstellen, Emotionen anders ausleben zu müssen! Einfach geil. Die Mannschaft kommt geschlossen und dankt uns. Ein gutes Gefühl.
Beim Einpacken, eine halbe Stunde später, bin ich zwar ausgelaugt und körperlich total fertig, aber es hat sich gelohnt. Ich denke kurz an meine Klassenkameraden, die jetzt irgendwo stehen, aufgebrezelt und total besoffen und weiß, dass ihr Lebensstil mir einfach nichts geben kann.
„Gehen wir noch was trinken? Ich hab da ’ne Idee für ein Spruchband, die wir mal besprechen sollten…“ Klar, ich bin dabei, was kann es denn Schöneres und Erfüllenderes geben?
Wenn ich letztlich nachts ins Bett falle, schlafe ich beruhigt ein, denn ich habe nichts versäumt, ganz im Gegenteil, ich hatte wirklich Spaß!